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14.09.2014

five to nine

Im deutschen allabendlichen Fernsehangebot wimmelt es nur so von sozial-ökonomischen Versuchsaufbauten an lebenden Menschen. Vor allem in immer absurderen phsychosozialen Laboranordnungen des Privatfernsehens, wird dem allgemeinen Aufmerksamkeitswahn der letzte Daumen für weiter schwindende Werbetaler abgerungen. Aber wichtig ist, dass überhaupt geirgendwast wird. Millionen Daumen und Hashtags können nicht irren! Nicht nur beim Werbefernsehen, auch bei den Zwangserhebungsstationen ist inzwischen Götterdämmerung aufgezogen, und nach dem der letzte Rentner in Anbetracht des "Bildungsangebot" immer gleichbesetzter Talkrunden eingeschlafen war, wurde inzwischen umfänglich reformiert, zumindest das Gebührenmodell. Alles halbwegs Anspruchsvolle wurde dabei ins Nachtprogramm delegiert oder gleich "verArtet", so setzt man nun auch beim Staatsfernsehen auf "einfache Kost" mit geringst möglichen Nebenwirkungen für die Hinterbliebenen des Echtzeitmodus.
Der Themenpark aller abendlichen Lebendversuche wird generell bewusst überschaubar gehalten, zum einen wird immer wieder die größtmögliche Fehlbesetzung für alle erdenklichen Aufgaben, Fähigkeiten und Lebenssituationen vor der Kamera gesucht. Zunehmend wird dieses Schema durch Mehrfachnominierung in verschiedensten Formaten zu sogenannten Casting-Ikonen erfolgreich synergetisch erweitert, das nennt man Kosten- und Profitoptimierung. Dabei ist in der letzten Zeit nicht nur deren komplette Geistlosigkeit besonders willkommen, eindeutig wird bei den Darstellern die enthemmte Bereitschaft zur Demonstration entblößter Haut bevorzugt, als auch eine eindeutige Paarungswilligkeit als besonders vorteilhaft angesehen. Ich bin gespannt was da noch alles in der Formateküche geht? Die Gerüchteküche um Heidis neueste Staffel fragt aufgeregt: Ersetzt "Tebartz der Shopper-Millionaire" Joop in der Jury?

Ganz soweit geht das bei den Kochdarstellern noch nicht, ansonsten ist das Kochen vor Kamera und Publikum zu einem weiteren erstklassigen allabendlichen Unterhaltungssegment auf allen Kanälen gewachsen. Es gibt alles und dies immer zu jeder Sendezeit, Einzelkochen, Rudelkochen, Kochduelle, Kochschulen, Kochverbesserer, Kochflüsterer, Spiel-ohne-Grenzen-mit-Pfannen, Betreutes Kochen, Geschmacksagenten, Rezeptefahnder und vieles mehr, zum übergewichtigen Teil immer männlich und nur in Ausnahmen auch mal weiblich (und die Biene Maja im deutschsprachigen Kochzirkus darf dann auch vor allem trendig "selfies" mit SX-70 von sich und echtem exotischem Essen machen). Eigentlich ist die Männerdominanz doch urkomisch, denn Von-der-Leyens- Herdprämie wird doch jetzt am Hindukusch vor allem von Männern verteidigt….


Außerhalb der Rezeptesammlung: Die Vorbereitung zu koreanischem Kimchi vor der Milchsäurevergährung.

Gerne werden auch medienwirksam Geschmacks-, Qualitätstester und auch Kochdarsteller zu den offensichtlichen Sollbruchstellen industrieller Lebensmittelproduktion und -verteilung geschickt, um so dem mündigen Kunden umfängliche Zweifel an Bestandteilen und Herstellung zu nehmen. Im Nachbarprogramm klettern seit Jahren Fernsehköche durch die Bevorratungs- , Zubereitungs- und Verkostungsbereiche professioneller Gastronomie, meist kurz vor deren wirtschaftlichem Exitus, – um als reinigende Kraft die notwendige Läuterung mit optimierter Marktanpassung einzuarbeiten. Super, so spannend kann Misserfolg sein, – "don't call it Schnitzel".
Ein Höhepunkt an Unterhaltung und gleichzeitig tiefgründigstem Einblick in die deutsche Kochseele und deren bescheidener Vorstellungswelt gelingt vor allem zwischen den Werbeblöcken, wenn ehemalige Spielerfrauen, deren neue Begleiter aus Vorabend-Realitysoaps, Casting-Verlierer, ausrangierte Viva-Moderatorinnen und verjährt sechsplatzierte "GNTM"-Kandidatinnen bei Promi-Dinners zeigen dürfen, welche exotisch klingende Namen sie für die Sendung extra auswendig gelernt haben und somit nun für Essen halten. Da korrespondieren die Farben künstlicher Fingernägel mit denen der Highheels und des Themenparks von Tisch- und Tellerdekoration in medienperfekter Harmonie eines Kücheneinrichtungshauses. Und wer diesen Parcours "ohne zu Reissen" nimmt, hat sich auch gleich für die nächste "Shopping-Queen-Ausgabe" disqualifiziert.

Inzwischen ist alles mindestens einmal zur Suppe verkocht, von exotisch über "rockn'roll" zu crossover, von italienisch, französisch, asiatisch (?), vegetarisch, vegan zu japanisch, koreanisch, indonesisch, indisch; von "just beef" über authentisch mittelalterlich bis hin zur Molekularküche, ist alles einmal durch den medialen Mixer gelassen worden. Zusätzlich noch wird tonnenweise Papier bedruckt, zu den ohnehin unzähligen Magazinen und Kochbüchern gesellen sich die jährlichen Publikationen der Fernsehkochdarsteller. Hat das alles etwas genutzt? Hat sich das kochkulturell rückständige Deutschland zu einem aufstrebenden Entwicklungsland mit Geschmackskultur gemausert?

Wenn man sich die veröffentlichten Zahlen ansieht wohl kaum. Im Erhebungszeitraum von 2000 bis 2007 wurde zum Ende bereits 75% mehr gegrillt als zu Beginn (Kochen für richtige Männer). Über den gleichen Zeitraum wurde festgestellt, das insgesamt 35% weniger der täglichen Speisen selbst zubereitet wurden und diese Menge zunehmend durch verschreibungspflichtiges oder c-waffentaugliches Material ersetzt wurde, im Volksmund auf neudenglisch "konwenianzfuut"genannt.


Außerhalb der Rezeptesammlung: Bretonische Sardinen (die besten) in klassisch mediterraner Zubereitung mit Knoblauch, Petersilie und Limone.
In Deutschland wird nicht mit Zunge und Gaumen gegessen, sondern immer noch ausschließlich mit dem Portemonnaie. Ich kenne keine Erhebungen dazu, aber in Ländern in denen das umgekehrt erscheint, wie in Italien, Frankreich oder Japan, allesamt Länder mit kulturell fest verankerten Genussversprechen beim Essen, aber auch mit traditionell ungeheurem Vorbereitungs- und Selektionsaufwand dafür. So verwundert es wenig, das die "Slow Food-Bewegung" in den 1980er Jahren in Italien (in der buddhistischen Kultur gab es diese traditionell immer schon) ihre erste Formation fand. In Italien behaupten Eingeborene, das der "Italiener an sich" (wer auch immer das ist), mindestens 50% seines Einkommens für Lebensmittel und Essen ausgibt (ich vermute Japaner auch).

Ich finde es absolut bemerkenswert, dass noch immer die alte Grenzlinie Limes des Römischen Kaiserreichs auch heute noch taugt, zwischen den damals höher entwickelter Ess- und Kochkulturen und der der Barbaren zu differenzieren. Den damaligen Provinzen Germania Superiore, Germania Inferiore um 400 n. Chr. entsprechen heute der Alpenraum und die vorgelagerten Gebiete, die westlichen Teile Baden-Württembergs, der Pfalz und des Rheinlands bis hin nach Xanten und repräsentieren auch nach 1500 Jahren erstaunlicherweise immer noch den aufgeschlosseneren Teil des Landes für die Kultur der Ernährung. Während die Nachkommen der germanischen und sächsischen Völker sich da doch bis heute eher schwertun. Das Quentchen sensorischer Erfüllung, aber auch die Bereitschaft darin ein umfängliches Spiel zu führen, welches man immer wieder neu zusammensetzten kann, würde taugen das Fremdwort Kulinarik auch dort verstehen zu wollen. Ich will nicht wirklich glauben das es an der Amtssprache Latein, gar an der Kommunion oder der Kelterung von Wein gelegen haben soll?

Früher gab es zu solchen Themen auch schon mal etwas im Fernsehen…


Salve, Volker


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